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Der Neuwelt-Schraubenwurm (Cochliomyia hominivorax): Eine veterinärmedizinische Risikobewertung für die europäische und deutsche Landwirtschaft


Einleitung und was Sie erwartet


Dieser Bericht liefert eine umfassende veterinärmedizinische Risikobewertung der Neuwelt-Schraubenwurmfliege (Cochliomyia hominivorax) für den europäischen und insbesondere den deutschen Agrarsektor. Als obligater Parasit, dessen Larven sich ausschließlich von lebendem Gewebe warmblütiger Tiere ernähren, stellt C. hominivorax eine fundamentale und weitaus größere Bedrohung dar als alle in Europa heimischen Myiasis-Erreger. Die Analyse historischer Daten aus Nordamerika belegt das katastrophale Potenzial des Schädlings, der vor seiner Ausrottung immense wirtschaftliche Schäden in der Viehwirtschaft verursachte und Wildtierpopulationen, insbesondere Hirsche, dezimierte.

Die zentrale Feststellung dieses Berichts ist eine kritische Lücke in der deutschen Gesetzgebung: Die durch C. hominivorax verursachte Myiasis ist derzeit keine anzeigepflichtige Tierseuche gemäß der deutschen Verordnung über anzeigepflichtige Tierseuchen. Diese regulatorische Lücke würde im Falle einer Einschleppung eine schnelle und koordinierte Reaktion erheblich behindern.

Die Risikolage wird durch den Klimawandel dramatisch verschärft. Steigende Wintertemperaturen und eine Abnahme der Frosttage in Deutschland erodieren die wichtigste natürliche Barriere gegen die Etablierung dieses tropischen Parasiten. Regionen, die bisher als ungeeignet für eine ganzjährige Überwinterung galten, könnten bald zu lebensfähigen Habitaten werden. Während das Risiko einer Einschleppung durch globalen Handel und Reiseverkehr als gering, aber steigend bewertet wird, ist das Risiko einer Etablierung nach einer Einschleppung als moderat und rapide zunehmend einzustufen. Die potenziellen Auswirkungen eines etablierten Ausbruchs wären für die Viehwirtschaft, die heimische Biodiversität und die öffentliche Gesundheit sehr hoch.

Der Bericht schließt mit strategischen Empfehlungen, die sich an politische Entscheidungsträger, die Landwirtschaft und die Wissenschaft richten. Die vordringlichste Empfehlung ist die umgehende Aufnahme der C. hominivorax-Myiasis in die Liste der anzeigepflichtigen Tierseuchen in Deutschland und auf EU-Ebene. Weitere Maßnahmen umfassen die Stärkung der Importkontrollen, die Sensibilisierung von Tierärzten und Landwirten sowie gezielte Forschung zur Verfeinerung von Klimamodellen und zur Bewertung von Bekämpfungsstrategien im europäischen Kontext.


1. Einleitung: Cochliomyia hominivorax – Eine formidable parasitäre Bedrohung


Dieser Abschnitt etabliert die Identität und Bedeutung des Neuwelt-Schraubenwurms (NWS) und positioniert ihn als eine hochwirksame exotische Bedrohung, die sich grundlegend von den derzeit in Europa endemischen Parasiten unterscheidet.


1.1 Definition des Neuwelt-Schraubenwurms (NWS) und sein Status als obligater Parasit


Der Neuwelt-Schraubenwurm, wissenschaftlich Cochliomyia\ hominivorax (wörtlich „Menschenfresser“) 1, ist eine parasitäre Fliege aus der Familie der Schmeißfliegen (Calliphoridae).1 Das entscheidende Merkmal, das diese Spezies von den meisten anderen Schmeißfliegen unterscheidet, ist die Tatsache, dass ihre Larven

obligate Parasiten sind. Das bedeutet, sie ernähren sich ausschließlich vom lebenden Fleisch warmblütiger Tiere.3 Im Gegensatz dazu sind die meisten anderen Schmeißfliegenlarven saprophag (ernähren sich von verrottendem organischem Material) und verursachen lediglich eine sekundäre Myiasis in bereits nekrotischem Gewebe.4 Der NWS hingegen verursacht eine

primäre traumatische Myiasis, indem er selbst die Wunde initiiert und aktiv gesundes Gewebe zerstört.2Diese parasitäre Natur macht ihn zu einer direkten und aggressiven Bedrohung für gesunde Nutztiere, Wildtiere und auch den Menschen.3


1.2 Abgrenzung des NWS von in Europa endemischen Myiasis-verursachenden Fliegen


Für eine präzise Risikobewertung ist die Abgrenzung des NWS von in Europa heimischen Fliegen wie Lucilia sericata (Goldfliege) von entscheidender Bedeutung. Während europäische Fliegen den für Landwirte bekannten und gefürchteten „Fliegenmadenbefall“ (fly strike) verursachen können, befallen sie typischerweise mit Fäkalien verunreinigte Wolle oder bereits vorhandene, abgestorbene Wunden. Ihre Pathogenität ist also sekundär. Der NWS sucht hingegen aktiv nach kleinsten Verletzungen – wie Zeckenbissen, Kratzern, Enthornungswunden oder den Nabeln von Neugeborenen – um dort seine Eier abzulegen. Die schlüpfenden Larven erweitern diese Wunde dann aggressiv durch den Verzehr von gesundem, lebendem Gewebe.1 Die Verwendung der Trivialnamen „Schraubenwurm“, der das bohrende Fressverhalten der Larven beschreibt 4, und des wissenschaftlichen Artnamens

hominivorax 1 ist daher nicht nur deskriptiv, sondern dient dazu, die Schwere der Bedrohung unmittelbar zu verdeutlichen und einer Verharmlosung durch den Vergleich mit bekannten, weniger aggressiven Parasiten vorzubeugen. Die bestehenden europäischen Erfahrungen mit Myiasis sind somit kein verlässlicher Indikator für die potenziellen Auswirkungen einer NWS-Einschleppung.


1.3 Globale Verbreitung und die Bedeutung der ausgerotteten Zonen


Der NWS ist in den tropischen und subtropischen Regionen Südamerikas sowie auf einigen karibischen Inseln endemisch.1 Durch eine monumentale internationale Anstrengung wurde die Fliege erfolgreich aus den Vereinigten Staaten (1966), Mexiko (1991) und ganz Zentralamerika ausgerottet. Diese Kampagne gipfelte in der Errichtung einer permanenten Barriere aus sterilen Fliegen an der Darién-Lücke in Panama, die von der Panama-US-Kommission für die Ausrottung des Schraubenwurms (COPEG) unterhalten wird.1 Die Existenz und die immensen, laufenden Kosten dieser Barriere sind ein klares Indiz für die von diesen Nationen wahrgenommene Schwere der Bedrohung. Sie stellen eine De-facto-Quantifizierung des wirtschaftlichen und ökologischen Risikos dar, das der NWS darstellt, und liefern ein starkes Argument für proaktive Investitionen in die Prävention in Europa.

Von überragender Bedeutung für die europäische Risikobewertung ist die erfolgreiche Ausrottung eines Ausbruchs in Libyen im Jahr 1992. Dieser Vorfall beweist unwiderlegbar, dass der NWS interkontinental transportiert werden kann, sich in einer neuen Umgebung etablieren und eine glaubwürdige Bedrohung weit über sein ursprüngliches Verbreitungsgebiet hinaus darstellen kann.14


2. Die Biologie und Pathogenese der traumatischen Myiasis


Dieser Abschnitt liefert die wesentlichen biologischen Daten, die der gesamten Risikobewertung zugrunde liegen, und konzentriert sich auf die Faktoren, die das Überleben, die Fortpflanzung und die zerstörerische Kapazität des Parasiten bestimmen.


2.1 Lebenszyklus und Umweltabhängigkeiten


Der Lebenszyklus des NWS ist schnell und hocheffizient. Das Weibchen legt Gelege von 200 bis 400 Eiern an den Rändern von Wunden ab.9 Innerhalb von nur 12 bis 24 Stunden schlüpfen die Larven.18 Diese fressen sich für 5 bis 7 Tage in das lebende Gewebe und bohren sich tief in den Wirt.3 Die reifen Larven lassen sich dann zu Boden fallen, verpuppen sich in der Erde und schlüpfen je nach Temperatur und Feuchtigkeit nach 7 bis 54 Tagen als adulte Fliegen.3 Unter optimalen Bedingungen kann der gesamte Zyklus in weniger als 21 Tagen abgeschlossen sein.18

Die Umweltabhängigkeit des NWS ist seine größte Schwachstelle und gleichzeitig der entscheidende Faktor für die Risikobewertung in Europa. Als tropische/subtropische Art gedeiht die Fliege bei Temperaturen zwischen 20 °C und 30 °C und benötigt feuchte Bedingungen.1 Entscheidend ist, dass sie

keinen Frost überlebt; die Larven sterben bei länger andauernden Temperaturen unter 8 °C ab.1 Die Art durchläuft keine Diapause (ein Ruhestadium), um den Winter zu überdauern.1 Diese strikte Temperaturabhängigkeit war bisher die wichtigste natürliche Barriere für eine Etablierung in gemäßigten Klimazonen wie Deutschland.


2.2 Pathogenese: Der Mechanismus der Gewebezerstörung


Der Name „Schraubenwurm“ leitet sich von der Morphologie und dem Verhalten der Larven ab. Sie besitzen charakteristische, ringförmig angeordnete Stacheln, mit denen sie sich im Gewebe des Wirtes verankern, sowie scharfe Mundhaken, mit denen sie lebendes Gewebe zerreißen.1 Der Fressprozess erzeugt eine übelriechende, sich schnell vergrößernde Wunde. Dieser Geruch lockt wiederum weitere trächtige NWS-Weibchen an, die ebenfalls Eier ablegen, was zu massiven, generationenübergreifenden Befällen bei einem einzigen Wirtstier führen kann.4 Unbehandelt kann der Tod innerhalb von 7 bis 14 Tagen durch Toxämie (Blutvergiftung), sekundäre bakterielle Infektionen oder schiere Gewebezerstörung eintreten.9


2.3 Wirtsspektrum und Anfälligkeit der europäischen Nutz- und Wildtiere


Der NWS zeichnet sich durch ein extrem breites Wirtsspektrum aus. Er befällt alle warmblütigen Tiere, einschließlich aller relevanten Nutztierarten (Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine, Pferde), Haustiere, Wildtiere und den Menschen.3 Jede offene Wunde stellt eine potenzielle Eiablagestelle dar. Typische Befallsstellen bei Nutztieren sind die Nabel von Neugeborenen, Kastrations- und Enthornungswunden, Brandzeichen, Zeckenbisse und selbst kleine Kratzer.4 Die hohe Dichte an Nutztieren (insbesondere Rinder und Schafe) und die reichlich vorhandenen Wildtierpopulationen (wie Rehe, Hirsche und Wildschweine) in Deutschland und ganz Europa würden im Falle einer Einschleppung ein riesiges und leicht zugängliches Wirtsreservoir darstellen.

Tabelle 1: Biologische und lebenszyklische Parameter von Cochliomyia hominivorax

Parameter

Wert/Bereich

Quellen

Wissenschaftlicher Name

Cochliomyia\ hominivorax

1

Trivialname

Neuwelt-Schraubenwurmfliege

1

Parasitismus-Typ

Obligater Parasit (primäre traumatische Myiasis)

3

Optimale Temperatur

20 °C – 30 °C

1

Untere Letaltemperatur

Larven sterben bei anhaltenden Temperaturen < 8 °C

1

Frostresistenz

Keine (überlebt keinen Frost)

1

Lebenszyklusdauer

Ab 21 Tagen (temperaturabhängig)

18

Eier pro Weibchen

200 – 400 pro Gelege, mehrere Gelege möglich

9

Primärwirte

Alle warmblütigen Tiere (Säugetiere, Vögel), inkl. Mensch

3


3. Eine Geschichte der Ausrottung: Der Erfolg und die Lehren der Sterilen-Insekten-Technik (SIT)


Dieser Abschnitt beschreibt den historischen Kontext der NWS-Bekämpfung und zeigt sowohl das Ausmaß des Problems vor der Ausrottung als auch die Wirksamkeit des primären Bekämpfungsinstruments, der Sterilen-Insekten-Technik (SIT).


3.1 Die verheerenden Auswirkungen in Amerika vor der Ausrottung


Vor der Entwicklung der SIT verursachte der NWS katastrophale Verluste in der US-amerikanischen Viehwirtschaft. Schätzungen aus den 1950er und 1960er Jahren bezifferten die jährlichen Verluste auf 10–20 Millionen US-Dollar im Südosten und 50–100 Millionen US-Dollar im Südwesten – Beträge, die heute Hunderten von Millionen Dollar entsprechen würden.5 Die Auswirkungen auf die Tierwelt waren ebenso gravierend. Der Schraubenwurm war ein Hauptfaktor für die Unterdrückung von Hirschpopulationen. In Texas war der NWS für eine Mortalität von bis zu 80 % bei Weißwedelhirsch-Kitzen verantwortlich.22 Die Ausrottung des NWS führte direkt zu einer explosionsartigen Zunahme der Hirschbestände.8


3.2 Die Entwicklung und Anwendung der SIT: Ein Meilenstein in der Schädlingsbekämpfung


Die SIT wurde in den 1950er Jahren von den Entomologen Knipling und Bushland entwickelt. Sie nutzten eine entscheidende biologische Schwäche der Fliege aus: Das Weibchen paart sich nur ein einziges Mal in seinem Leben.1 Die Technik beruht auf der Massenaufzucht von Fliegen, der Sterilisation der Puppen durch Gammastrahlung und der anschließenden Freisetzung einer überwältigenden Anzahl steriler Männchen in der Natur.15 Paarungen zwischen sterilen Männchen und wilden Weibchen führen nicht zu Nachkommen, wodurch die Population kollabiert.14 Der erste erfolgreiche Feldversuch fand 1954 auf der Insel Curaçao statt.14 Dieser Erfolg war die Grundlage für die groß angelegten Programme, die die Fliege aus den USA und Mexiko ausrotteten.11


3.3 Die Panama-Kolumbien-Barriere: Ein Modell für proaktive Eindämmung


Um die ausgerotteten Gebiete zu schützen, wird in Panama eine permanente biologische Barriere von der COPEG unterhalten.12 Diese Einrichtung produziert und verteilt kontinuierlich zig Millionen sterile Fliegen pro Woche entlang der Grenze zu Kolumbien, um eine Wiederbesiedlung aus den endemischen südamerikanischen Populationen zu verhindern.23 Die Notwendigkeit dieser massiven, andauernden Anstrengung zeigt, dass die SIT keine einmalige Lösung ist, sondern ein kontinuierliches Managementinstrument zur Eindämmung erfordert, wenn eine vollständige, kontinentale Ausrottung nicht erreicht ist.


3.4 Moderne Fortschritte: Von der SIT zu präzisen genetischen Kontrollmethoden


Obwohl die SIT sehr effektiv ist, hat sie Nachteile. Die zur Sterilisation verwendete Strahlung kann die Fitness und Wettbewerbsfähigkeit der freigesetzten Männchen beeinträchtigen.14 Moderne Gentechnik bietet hier signifikante Verbesserungen. Es wurden transgene Stämme entwickelt, die ein „genetisches Geschlechts-Screening“ (genetic sexing) ermöglichen, beispielsweise durch weibchen-letale Gene. Dadurch werden nur Männchen freigesetzt, was die Effizienz verdoppelt und die Produktionskosten potenziell halbiert.14 Die erfolgreiche Reaktion auf den Ausbruch in Libyen war nur möglich, weil sterile Fliegen aus der etablierten Produktionsanlage in Mexiko eingeflogen werden konnten.14 Dies verdeutlicht, dass eine schnelle Reaktion auf einen neuen Ausbruch ohne eine bereits existierende, massive Infrastruktur zur SIT-Produktion unmöglich ist. Eine europäische Risikobewertung muss daher die kritische logistische Frage der globalen Verfügbarkeit und Bereitschaft zur Lieferung steriler Insekten im Notfall berücksichtigen.

Weiterführende Forschung zu Gene-Drive-Technologien zielt darauf ab, die Ausrottung noch effizienter und nachhaltiger zu gestalten, indem die Vererbung von Eigenschaften, die nur männliche Nachkommen hervorbringen, sichergestellt wird.1 Diese technologische Entwicklung von der Bestrahlung hin zu genetischen Kontrollmethoden stellt einen Paradigmenwechsel dar. Ein Ausbruch in Europa würde eine dringende und schwierige Debatte erzwingen: Soll die „alte“, aber akzeptierte SIT-Methode oder eine effektivere, aber im Hinblick auf die EU-Gesetzgebung zu gentechnisch veränderten Organismen (GVO) potenziell umstrittene Methode eingesetzt werden? Eine umfassende Vorbereitung muss diese regulatorische und gesellschaftliche Herausforderung antizipieren.


4. Wirtschaftliche und ökologische Folgen eines potenziellen Ausbruchs


Dieser Abschnitt quantifiziert den potenziellen Schaden einer NWS-Einschleppung nach Europa durch die Extrapolation historischer Daten und die Analyse der spezifischen Anfälligkeiten europäischer Ökosysteme.


4.1 Modellierung wirtschaftlicher Verluste: Eine Analyse basierend auf historischen US-Daten


Die wirtschaftlichen Folgen eines NWS-Ausbruchs wären verheerend. Eine detaillierte Aufschlüsselung der Kosten, basierend auf den Erfahrungen in den USA vor der Ausrottung, umfasst direkte Tierverluste, verminderte Produktion (Fleisch, Milch), erhöhte Veterinär- und Arbeitskosten sowie die Kosten für präventive Behandlungen.21 Als Modell kann der Ausbruch in Texas im Jahr 1976 herangezogen werden. Die Verluste für die Produzenten beliefen sich damals auf über 132 Millionen US-Dollar, was heute einer Kaufkraft von über 600 Millionen US-Dollar entspricht.21

Ein Ausbruch würde zudem sofortige und schwerwiegende Handelsbeschränkungen nach sich ziehen, die den Export von Lebendtieren, Fleisch und Milchprodukten betreffen und kaskadenartige wirtschaftliche Schäden weit über den landwirtschaftlichen Betrieb hinaus verursachen würden.28 Das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Ausrottung ist extrem günstig; für das Programm in Nordafrika wurde es auf 50:1 geschätzt, was erhebliche präventive Investitionen rechtfertigt.16

Tabelle 2: Historische wirtschaftliche Auswirkungen des NWS in den Vereinigten Staaten (vor der Ausrottung)

Region/Zeitraum

Kostenkategorie

Geschätzter jährlicher Verlust (Originalwert)

Geschätzter jährlicher Verlust (inflationsbereinigt 2024, ca.)

Quellen

US-Südosten (vor 1959)

Produzentenverluste

10–20 Mio. USD

100–200 Mio. USD

21

US-Südwesten (vor 1966)

Produzentenverluste

50–100 Mio. USD

500 Mio. – 1 Mrd. USD

5

Texas (1976)

Produzentenkosten

132 Mio. USD

> 600 Mio. USD

21

USA gesamt

Ausrottungskosten (1957–1966)

42 Mio. USD

> 400 Mio. USD

5

USA gesamt

Jährlicher Nutzen der Ausrottung (Stand 1996)

796 Mio. USD

> 1,5 Mrd. USD

21


4.2 Die Auswirkungen auf Wildtierpopulationen: Fallstudien aus nordamerikanischen Hirschbeständen


Der NWS ist ein besonders verheerender Parasit für Wildtiere, da diese nicht zur Behandlung eingefangen werden können. Die historischen Daten aus Nordamerika sind hier alarmierend.

  • Fallstudie 1: Weißwedelhirsche in Texas. Vor der Ausrottung tötete der NWS jährlich bis zu 80 % der Hirschkitze und unterdrückte die gesamte Population massiv.22 Die Erholung der Hirschbestände war eine direkte Folge der NWS-Ausrottung.8

  • Fallstudie 2: Key-Hirsche in Florida. Ein Ausbruch im Jahr 2016 in den Florida Keys tötete 127 Key-Hirsche, eine gefährdete Unterart. Dies entsprach einem Verlust von etwa 20 % der gesamten Population, bevor der Ausbruch unter Kontrolle gebracht werden konnte.22 Dies zeigt die extreme Gefahr für Arten mit kleinen oder geografisch konzentrierten Populationen.


4.3 Die Bedrohung für die europäische Biodiversität und gefährdete Arten


Das breite Wirtsspektrum des NWS bedeutet, dass praktisch alle heimischen Säugetierarten Europas gefährdet wären, darunter Rothirsche, Rehe, Wildschweine, Gämsen, Steinböcke und geschützte Arten wie der Wisent. Die Auswirkungen könnten besonders schwerwiegend für Wiederansiedlungsprojekte oder Populationen gefährdeter Arten sein, bei denen ein einziger Ausbruch die Naturschutzarbeit von Jahrzehnten zunichtemachen könnte. Die Bedrohung für Ozelots in Texas wird als direkte Parallele angeführt.31


5. Risikobewertung für Europa mit Fokus auf Deutschland


Dies ist der zentrale analytische Abschnitt, der die Biologie des Parasiten mit den ökologischen und logistischen Gegebenheiten in Europa verknüpft, um die Wahrscheinlichkeit und potenzielle Schwere einer Einschleppung zu bewerten.


5.1 Einschleppungswege: Analyse der Schwachstellen im Handel und Reiseverkehr


Die wahrscheinlichsten Einschleppungswege sind der Transport von befallenen Tieren (Nutztiere, Haustiere, Zootiere) oder, weniger wahrscheinlich, kontaminierte Materialien.1 Die US-amerikanische Tier- und Pflanzengesundheitsinspektion (APHIS) hat sehr spezifische Anforderungen für Tiere aus NWS-betroffenen Regionen, einschließlich eines tierärztlichen Zeugnisses über die Inspektion auf Schraubenwürmer innerhalb von 5 Tagen vor dem Versand.34

Der Rechtsrahmen der EU für Tiergesundheit ist zwar robust, aber allgemeiner gehalten. Lebendtierimporte erfordern Kontrollen an Grenzkontrollstellen (GKS) und ein Gemeinsames Gesundheitseingangsdokument (GGED-A).38 Es gibt jedoch keine expliziten, EU-weiten Vorschriften, die eine spezifische NWS-Inspektion für alle Warmblüterimporte aus endemischen Ländern in der gleichen Weise vorschreiben wie die USA. Dies stellt eine potenzielle Schwachstelle dar. Die Risikobewertungsmethodik des L'ORA-Tools der EFSA könnte auf den NWS angewendet werden, um diese Risiken systematisch zu bewerten.39


5.2 Etablierungspotenzial: Der Klimafaktor



5.2.1 Bewertung der Umweltanforderungen des NWS im Vergleich zum europäischen Klima


Historisch gesehen hätten die kalten Winter in Mittel- und Nordeuropa eine ganzjährige Etablierung des NWS verhindert.1 Die Fliege könnte sich potenziell saisonal im Sommer etablieren, würde aber durch die ersten strengen Fröste abgetötet. Eine Studie, die die potenzielle Verbreitung im Mittelmeerraum modellierte, identifizierte das Nil-Gebiet in Ägypten als sehr günstig, was darauf hindeutet, dass Südeuropa bereits heute gefährdet ist.40


5.2.2 Die Rolle des Klimawandels: Steigende Wintertemperaturen und abnehmende Frosttage in Deutschland


Dies ist die kritische Variable, die die Risikokalkulation verändert. Daten des Deutschen Wetterdienstes (DWD) und anderer Quellen zeigen einen unbestreitbaren Erwärmungstrend. Die Durchschnittstemperatur in Deutschland ist seit 1881 um 1,8 °C gestiegen.41 Die Winter sind deutlich milder geworden; die letzten 13 Winter in Folge waren wärmer als der Durchschnitt von 1961–1990.42 Die Anzahl der „Eistage“ (Höchsttemperatur < 0 °C) ist signifikant zurückgegangen.41

Projektionen für Bayern zeigen beispielsweise eine Reduzierung der Frosttage um ca. 25 % bis 2050.44 In Niedersachsen sind die Wintertemperaturen im Vergleich zum Referenzzeitraum 1961–1990 um 1,1 °C bis 1,3 °C gestiegen.45 Diese Erosion der „Winterbarriere“ bedeutet, dass Gebiete, die bisher als sicher vor einer ganzjährigen Etablierung galten, bald zu lebensfähigen Habitaten für den NWS werden könnten. Dies erhöht das Risiko einer sich selbst erhaltenden Population nach einer Einschleppung dramatisch.

Tabelle 3: Klimawandelindikatoren relevant für die Etablierung des NWS in Deutschland (1961-heute & Projektionen)

Klimaindikator

Referenzperiode (1961–1990)

Aktueller Trend/Wert

Zukunftsprojektion

Relevanz für NWS

Quellen

Mittlere Wintertemperatur (°C)

Deutschland: ca. 0,2 °C

Anstieg um ca. 2,1 °C (rel. zu 1961-1990)

weiterer Anstieg

Nähert sich der Überlebensschwelle an

42

Anzahl Frosttage (Tmin < 0 °C)

Bayern: ca. 120 Tage

Deutlicher Rückgang

Bayern: -25 % bis 2050

Reduziert die Wintermortalität der Puppen

44

Anzahl Eistage (Tmax < 0 °C)

Deutschland: ca. 27 Tage

Rückgang auf ca. 18 Tage

weiterer Rückgang

Erhöht die Überlebenschancen der Puppen im Boden

41

Niederschlag im Winter

-

Zunahme um ca. 28 %

weiterer Anstieg

Erhöht die für die Fliege notwendige Feuchtigkeit

43


5.3 Wirtsverfügbarkeit und Ausbreitungspotenzial



5.3.1 Dichte anfälliger Nutz- und Wildtiere in Deutschland


Deutschland hat einen der größten Nutztierbestände in der EU, insbesondere bei Rindern und Schweinen. Gleichzeitig verfügt es über dichte Populationen von Wildwirten wie Rehen, Rothirschen und Wildschweinen. Diese hohe Wirtsdichte würde ein schnelles Populationswachstum und eine rasche Ausbreitung des NWS begünstigen, sollte er sich etablieren.


5.3.2 Modellierung der Ausbreitungsrate nach der Einschleppung


Adulte Fliegen können weite Strecken zurücklegen, mit Berichten von bis zu 200 km, obwohl kürzere Flüge von 10–15 km typischer sind, wenn Wirte reichlich vorhanden sind.18 Eine einzige Generation kann sich 80–160 km ausbreiten.1 In den dichten Agrar- und Waldlandschaften Deutschlands deutet dies auf ein Potenzial für eine schnelle, schwer einzudämmende Expansion von einem anfänglichen Ausbruchsort hin.


6. Die europäische und deutsche Regulierungs- und Vorsorgelandschaft


Dieser Abschnitt bewertet die Fähigkeit des derzeitigen rechtlichen und institutionellen Rahmens, eine NWS-Einschleppung zu verhindern, zu erkennen und darauf zu reagieren.


6.1 Analyse des aktuellen rechtlichen Status: Eine kritische Lücke in der nationalen Gesetzgebung


Der NWS ist eine bei der Weltorganisation für Tiergesundheit (WOAH) gelistete Seuche, was seine globale Bedeutung unterstreicht.10 Eine Überprüfung der deutschen

Verordnung über anzeigepflichtige Tierseuchen zeigt jedoch, dass die durch C.\ hominivorax verursachte Myiasis derzeit nicht gelistet ist.51 Obwohl einige Fachtexte eine Anzeigepflicht suggerieren 55, enthält das primäre Rechtsinstrument diese Spezies nicht.

Dies ist die kritischste Feststellung dieses Berichts. Das Fehlen des NWS auf dieser Liste bedeutet, dass die automatischen, schnellen und spezifischen Bekämpfungsmaßnahmen, die für gelistete Seuchen vorgeschrieben sind, nicht ausgelöst würden. Es gäbe keinen vordefinierten Plan für Sperrbezirke, Keulungen oder Überwachungsmaßnahmen. Obwohl ein Tierarzt oder Landwirt nach dem Tiergesundheitsgesetz (TierGesG § 4) immer noch eine allgemeine Pflicht zur Meldung ungewöhnlicher Krankheitsanzeichen hätte 57, schafft das Fehlen einer spezifischen Listung ein hohes Risiko für Fehldiagnosen, verspätete Meldungen und eine langsame, ad-hoc-Reaktion.


6.2 Die Rolle des EU-Tiergesundheitsrechts (AHL)


Das EU-Tiergesundheitsrecht (Verordnung (EU) 2016/429) bietet einen Rahmen für die Kategorisierung und Bekämpfung von Tierseuchen.60 Seuchen werden gelistet und in Kategorien (A–E) eingeteilt, was die erforderliche Reaktion bestimmt (z. B. sofortige Tilgung für Kategorie-A-Seuchen). Der NWS ist derzeit nicht in den Durchführungsrechtsakten des AHL gelistet. Eine Einschleppung könnte potenziell unter den Bestimmungen für neu auftretende Seuchen behandelt werden, aber dies wäre ein reaktiver statt eines proaktiven Ansatzes.


6.3 Bewertung bestehender Überwachungs- und Biosicherheitsmaßnahmen


Die derzeitige betriebliche Biosicherheit und die veterinärmedizinische Überwachung in Deutschland haben ein hohes Niveau, sind aber nicht speziell auf die Erkennung des NWS ausgelegt. Ein Tierarzt, der eine von Maden befallene Wunde sieht, würde wahrscheinlich von einer gewöhnlichen europäischen Fliege ausgehen und möglicherweise keine Proben zur entomologischen Identifizierung entnehmen. Die allgemeinen Pflichten der Tierhalter zur Verhinderung der Einschleppung von Seuchen sind in TierGesG § 3 festgelegt 59, aber spezifische Anleitungen zum NWS fehlen.


6.4 Lehren aus anderen Einschleppungen von vektorübertragenen Krankheiten (Blauzungenkrankheit, West-Nil-Virus)


Die nordwärts gerichtete Ausbreitung des Blauzungenvirus in Europa, die durch Culicoides-Gnitzen erleichtert wurde, ist direkt mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht worden.62 Dies dient als direkter Präzedenzfall für eine klimabedingte Ausbreitung einer vektorübertragenen Tierseuche. Die jüngste Etablierung des West-Nil-Virus (WNV) in Deutschland, das erstmals 2018 nachgewiesen wurde, zeigt, wie schnell ein neuer vektorübertragener Erreger ankommen und einen endemischen Zyklus bilden kann.64 Die Reaktion umfasste die Überwachung von Wildvögeln, Pferden und Mücken, koordiniert durch das Friedrich-Loeffler-Institut (FLI). Dies liefert ein Modell für die Art der „One Health“-Überwachung, die auch für den NWS erforderlich wäre.

Tabelle 4: Regulatorischer Status der Cochliomyia hominivorax-Myiasis

Rechtsordnung/Jurisdiktion

Status

Wichtige Anforderungen/Implikationen

Quellen

Weltorganisation für Tiergesundheit (WOAH)

Gelistete Seuche

Internationale Meldepflicht, Handelsstandards im Terrestrial Code

10

Vereinigte Staaten (USDA-APHIS)

Hochansteckende, exotische Tierseuche

Spezifische Importanforderungen, inkl. Veterinärzertifikat über Schraubenwurm-Freiheit für Tiere aus betroffenen Regionen

34

Europäische Union (Animal Health Law)

Nicht explizit gelistet

Keine spezifischen, harmonisierten NWS-Kontrollmaßnahmen; würde als "neu auftretende Seuche" behandelt

60

Deutschland (TierSeuchAnzV)

Nicht gelistet

Keine spezifische Anzeigepflicht; keine automatischen staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen

51

Ein Neuwelt-Schraubenwurm
Neuwelt-Schraubenwurm (KI-Bild)

7. Schlussfolgerung und strategische Empfehlungen


Dieser letzte Abschnitt fasst die Ergebnisse zusammen und gibt klare, umsetzbare Empfehlungen für verschiedene Interessengruppen.


7.1 Synthese des Risikos: Eine qualitative Bewertung des Bedrohungsgrades


Basierend auf der vorliegenden Analyse wird das Risiko wie folgt bewertet:

  • Das Risiko einer Einschleppung des NWS nach Deutschland ist derzeit gering, aber steigend. Die Wege existieren, aber das Volumen des Tierverkehrs aus endemischen Gebieten ist überschaubar.

  • Das Risiko einer Etablierung nach einer Einschleppung ist moderat und rapide steigend. Dies wird hauptsächlich durch den Klimawandel angetrieben, der die Winterbarriere erodiert.

  • Die potenziellen Auswirkungen eines etablierten Ausbruchs wären sehr hoch und würden zu katastrophalen wirtschaftlichen Verlusten im Viehsektor, schweren ökologischen Schäden an der Tierwelt und erheblichen Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit und den Tierschutz führen.

Die Gesamtbedrohung ist daher signifikant und rechtfertigt sofortige proaktive Aufmerksamkeit. Die derzeitige fehlende spezifische regulatorische Listung stellt die kritischste Schwachstelle dar.


7.2 Empfehlungen für politische Entscheidungsträger und Regulierungsbehörden (BMEL, FLI, EU-Kommission)


  • Primäre Empfehlung: Einleitung des Verfahrens zur Aufnahme der durch Cochliomyia\ hominivoraxverursachten Myiasis in die Liste der national anzeigepflichtigen Tierseuchen in Deutschland und zur Listung und Kategorisierung (als Kategorie-A-Seuche) im Rahmen des EU-Tiergesundheitsrechts.

  • Beauftragung einer formellen, quantitativen Risikobewertung durch das FLI und/oder die EFSA, die speziell die wirtschaftlichen Auswirkungen und das Ausbreitungspotenzial unter deutschen Klimawandelszenarien modelliert.

  • Überprüfung und Verschärfung der Importkontrollen an den GKS für alle warmblütigen Tiere aus NWS-endemischen Ländern, möglicherweise in Anlehnung an die spezifischeren Anforderungen der US-amerikanischen APHIS.


7.3 Empfehlungen für den Agrar- und Veterinärsektor (Bauernverbände, Tierärztekammern)


  • Entwicklung und Verbreitung von Aufklärungs- und Schulungsmaterialien für Tierärzte und Landwirte zur Identifizierung einer verdächtigen NWS-Myiasis (z. B. tiefe, progressive Wunden mit sichtbaren Larven) und zur Bedeutung der Einsendung von Larvenproben zur Identifizierung bei jedem ungewöhnlichen oder schweren Fall von Myiasis.

  • Betonung einer verbesserten Biosicherheit für neugeborene Tiere (z. B. Nabeldesinfektion) und eines schnellen Wundmanagements, insbesondere in den wärmeren Monaten.


7.4 Empfehlungen für die Forschungsgemeinschaft


  • Durchführung gezielter Forschung zur Vektorkompetenz europäischer Fliegenarten für andere Krankheitserreger, die potenziell vom NWS übertragen werden könnten (z.B. Maul- und Klauenseuche-Virus).1

  • Verfeinerung von Klimamodellen, um spezifische Regionen in Deutschland zu identifizieren, die als erste für ein ganzjähriges Überleben des NWS geeignet sein könnten.

  • Untersuchung der potenziellen logistischen und regulatorischen Hürden für den Einsatz fortschrittlicher Bekämpfungsmethoden wie gentechnisch veränderter steriler Insekten im europäischen Kontext.

 
 
 

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